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Lernen und GedächtnisCopyright © by V. Miszalok, last update: 2008-11-19 Text is partly based on Göttinger Tagung der Ges. f. Neurobiologie March 1998 R. Wandtner, FAZ Natur und Wissenschaft 1.4.98 und 18.10.00 and S. Klein, FAZ Feuilleton 24.06.04. Photo of E. Kandel from Der Spiegel 17/2000, p. 175 |
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Begriffe Aplysia Erich Kandel Lernen durch Selbstverdrahtung Was hat die Gruppe von E. Kandel herausgefunden ? Ausblick Links |
Lernen: Erwerb von Wissen über die Welt
Stimulus: schmerzhafter Reiz durch Berührung oder Stromstoss.
Habituation: Bei wiederholtem Stimulus wird die Reaktion immer schwächer (Gewöhnung)
Sensibilisierung: Ein erster Stimulus verstärkt die Reaktion auf nachfolgende gleiche Stimuli.
Gedächtnis: Erinnerung an frühere Stimuli.
Kurzzeitgedächtnis: Verlust des Gelernten innerhalb einer Stunde
Langzeitgedächtnis: Erhalt des Gelernten länger als eine Stunde.
Neurotransmitter: Botenstoff, der durch Wanderung Signale vermittelt
Extrazellulärraum: nicht in Membranen eingeschlossene Flüssigkeit, die außerhalb der Zellen frei flottiert
extrazellulärer Neurotransmitter: Botenstoff, der aus der Zelle in den Extrazellulärraum ausgeschüttet wird und durch Wanderung Stimuli an fremde Zellwände vermittelt.
intrazellulärer Transmitter: Botenstoff der nicht in den Extrazellulärraum ausgeschüttet wird, sondern im Zellinneren ein Ziel hat z.B. den Zellkern.
Serotonin: zentraler extrazellulärer Transmitter für Schmerzreize. Stimuli kann man simulieren durch Einbringen von Serotonin in den Extrazellulärraum.
cAMP und Mitogene: wichtige intrazelluläre Transmitter
Transskription: Ablesen von Erbinformation.
Transskriptionsfaktoren: Proteine, die die Transskription an/abschalten.
Synapse: Zellausbuchtung in der extrazelluläre Neurotransmitter auf Ausschüttung warten.
CREB-Proteine: cAMP-Responsive-Element-Binding-Proteins = Transskriptionsfaktoren für Synapsen bildende Gene
Aplysia (griechisch: Verschmutzung, deutsch: Seehase, engl: sea snail, sea slug) ist eine genetisch urzeitliche Meeresschnecke (bis 70 cm, 15 kg) mit sehr wenigen (ca. 20.000) aber sehr dicken Nervenzellen und Nervenfasern, die ca. 1000 mal dicker als bei Säugetieren und teilweise mit bloßem Auge sichtbar sind und in 9 Nervenknoten = Ganglien organisiert sind. Diese enorme Dicke und die geringe Anzahl (Biene hat 1 Mio, Löwe hat 10.000 Mio, Mensch hat 100.000 Mio Nervenzellen) macht Aplysia zum bevorzugten Biomodell der Neuroanatomie und Biochemie von Lernen und Gedächtnis. Schneckenzuchtfarmen beliefern die Laboratorien, die sich auf Aplysiaforschung spezialisiert haben. Neben der Fruchtfliege Drosophila melanogaster und der Maus ist Aplysia das am meisten beforschte Lebewesen überhaupt.
Trotz bescheidener Geisteskräfte ist Aplysia gelehrig. Sie zieht nach einem als gefährlich empfundenen Stimulus Kiemen und Atemröhre (Siphon) reflexartig gut sichtbar ein. Nur 6 motorische Nerven steuern den gesamten Vorgang. Sie beziehen ihre Information teils direkt, teils über Interneurone von Sinneszellen des Siphons. Nach etwa 10-malig wiederholter leichter Berührung des Siphons läßt sich Aplysia nicht mehr narren. Der Reflex erlischt durch Habituation. Hat nur ein Training stattgefunden, verschwindet die Erinnerung nach etwa einer Viertelstunde. Vier Trainings an vier Tagen führen zu einer Habituation, die 2 Wochen anhält. Wenn man den Fuß des Tieres elektrisch reizt, dann zeigt sich keine Habituation, sondern Sensitivierung. Außerdem reagiert es anschließend besonders sensibel auf Berührung des Siphons.
E. Kandel und Mitarbeiter nutzten die enorme Größe der Nervenzellen und die einfache Verdrahtung des Kiemenrückzugreflexes zur Untersuchung der Transmitterprozesse. Erwartungsgemäß beruht die Kurzzeit-Habituation auf einer Abnahme der Transmitterausschüttung der Siphonsinneszelle auf das Motoneuron des Kiemenmuskels.
Die Sensibilisierung nach Reizung des Fußes findet jedoch Zugang zum Langzeitgedächtnis über Tage und Wochen. Die zentrale Frage ist: Auf welchen zellulären und molekularen Mechanismen beruht diese Gedächtnisleistung ?
geb. 1929 in Wien (Autobiographie: http://www.nobel.se/medicine/laureates/2000/kandel-autobio.html) ist seit 1974 Prof. am Center for Neurobiology and Behavior und seit 1984 Senior Investigator am Howard Hughes Medical Institute der Columbia University NY. Kandel beforscht seit 26 Jahren die bescheidene aber lernfähige Intelligenz von Aplysia. Er ist Mitgründer der Firma Memory Pharmaceuticals (mit Hoffmann-LaRoche) und er erforscht ca. 200 bekannte Wirkstoffe, so genannten "cognitive enhancers" mit denen man Lernen und Gedächtnis von Tieren und Menschen beeinflussen kann. Er gilt als der Entdecker der zentralen Rolle der Creb-Proteine im Lernvorgang. Er teilt sich mit den Neurowissenschaftlern Arvid Carlsson, Göteborg (Rolle des Dopamins) und Paul Greengard, New York (Rolle der Phosphorylierung) den Nobelpreis für Medizin 2000 (Zitat aus der Nobel-Laudatio: "for their discoveries concerning signal transduction in the nervous system"). Kandel ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften www.bbaw.de.
Prof. Kandel zeigt einer Aplysia die Nachricht vom Nobelpreis.
Lernen, Stress, psychoaktive Substanzen verändern strukturell und funktionell das Gehirn → Neuroplastizität. Man unterteilt diese in "synaptische Plastizität" = Fähigkeit der einzelnen Nervenzelle, ihre Übertragungseigenschaften in Abhänigkeit von ihrer Inanspruchnahme zu verändern und in "kortikale Plastizität" = Fähigkeit der Hirnrinde, ihre innere Verdrahtung zu ändern.
Gesteuert vom Protein Neuroregulin-1 vollziehen sich solche Veränderungen leicht in "sensitiven Perioden", meistens jedoch ist die Plastizität schwerfällig und träge. Mit D-Cycloserin läßt sie sich wahrscheinlich medikamentös verbessern.
Allerdings ist noch ganz unklar, ob und wie Plastizität psychische Störungen verursacht.
Die haarfeinen Kontaktstellen zwischen zwei Neuronen, wo die Zellwände über Botenstoffe elektrisch umpolarisierbar sind (=Synapsen) sind Sitz eines Prozesses, den wir "Langzeitpotenzierung = LTP" nennen. Wenn zwei verschaltete Neuronen gleichzeitig feuern, wird ihre synaptische Bindung vertieft. Der gleiche Stimulus löst danach eine stärkere Reaktion aus: "Sensibilisierung". Wahrscheinlich sind beide Zellwände beteiligt: Auf der Sendeseite = Präsynapse vergrößert sich der Synapsenkolben und auf der Empfangsseite = Postsynapse steigt die Sensibilität. Die beteiligten Prozesse im Zellinneren werden neuerdings schemenhaft sichtbar: cAMP stimuliert Enzyme, die sogenannten "Proteinkinasen" welche die Fähigkeit besitzen, andere Proteine durch Anhängen einer Phosphatgruppe strukturell zu verändern. Die Proteinkinasen wirken zweifach: Sie verändern Zellwandproteine so, dass die Zellwand erregbarer wird (Ca-Ionen Sperre) und sie erhöhen die Ausschüttung von Transmittern in den Spalt. Sie verändern jedoch nichts dauerhaft, ihre Wirkung bleibt kurzfristig: sie sind offensichtlich die Träger des Kurzzeitgedächtnisses. Für dauerhafte Änderungen wird ein viel komplizierterer Prozess in Gang gesetzt: (1) hochfahren der Produktion von Zellwandproteinen im Zellkern (2) Transport zur Synapse und (3) Einbau dort in die Zellwand. Erst nach Abschluss der 3 Teilprozesse ist der Inhalt des Kurzzeitgedächtnisses in haltbare Form überführt: Die Synapse reagiert nunmehr stärker und schneller.
Langzeitgedächtnis: Wiederholte eingehende Schmerzsignale erweitern die Ausgangs-Synapse
Bildvorlage: Karolinska Institut, Stockholm
Rückkopplungs-Mechanismus des Kurzzeitgedächtnisses in stark verkürzter Darstellung:
(1) Extrazelluläres Serotonin stimuliert die Zelle.
(2) Intrazellulär wird der Transmitter cAMP freigesetzt.
(3) cAMP aktiviert Protein-Kinasen.
(4) Die Protein-Kinasen phosphorylieren bereits vorhandener Proteine, keine Neusysnthetisierung.
(5a) Die veränderten Proteine erhöhen die Erregbarkeit der Zellwand und erleichtern die Freisetzung von Transmittern in den Extrazellulärraum.
Das Langzeitgedächtnis verläuft bis (4) identisch.
(5b) Die Protein-Kinasen wandern zusätzlich in den Zellkern und aktivieren dort den Transkriptionsfaktor Creb1-Protein aus der Familie der Creb-Proteine.
(6) Creb1 betätigt einen genetischen Schalter, der einen autonom ablaufenden Proteinsynthetisierungsprozess in Gang setzt, der Zellgerüst- und Zellwand-Änderungen, z.B. den Neubau von Synapsen zur Folge hat.
(7) Für das Langzeitgedächtnis gibt es noch weitere Transmitter parallel zum cAMP, die "Mitogene".
(8) Diese aktivieren ein weiteres Creb-Protein im Zellkern, das Creb2, das bereits im Ruhezustand vorhanden ist. Interessanterweise unterdrückt dieses Creb2 die Transskription als Antagonist von Creb1. Wahrscheinlich verändern wiederholte Pulse von Serotonin Creb2 so, dass dessen Creb1-hemmende Wirkung abnimmt. Wenn Creb2 nicht vorhanden wäre, würde wahrscheinlich ein einzelner Serotoninstoss die Nervenzelle für lange Zeit sensibilisieren.
Diese Aktivator/Repressor-Paare sind inzwischen auch bei Drosophila und Maus nachgewiesen, wo sich die dominierende Rolle von Creb1 bestätigt. Erhöht man durch genetische Manipulation das Angebot an Creb1 oder vermindert man durch Antikörper gegen Creb2 dessen Repressorfunktion, dann lernen die Tiere tatsächlich spektakulär ca. 5 mal schneller (T. Tully und J.Yin Cold Spring Harbor Lab. Long Island NY).
Die von Kandel gegründete Firma „Memory Pharmaceuticals“ in New Jersey testet die Moleküle MEM1414 oder MEM1917 bei Alzheimer-Kranken. Auch diese Moleküle erhöhen die intrazellulären Menge an Creb.
Die beim menschlichen Lernen wichtigste Gehirnstruktur ist der Hippokampus am Boden des Schläfenlappens. Anders als bei Aplysia ist im Hippokampus Glutamat der bestimmende extrazelluläre Neurotransmitter und NMDA das auf Glutamat spezialisierte Rezeptormolekül. Es gibt dort 3 neuronale Verbindungssysteme: die Moosfasern, die Schaffer-Kollateralen und den Tractus perforans. Für die Moosfasern und Schaffer-Kollateralen ist der Mechanismus der Sensibilisierung (neurophysiologisch: Langzeitpotenzierung) gesichert (allerdings nicht das Vorhandensein des Creb1-Creb2-Antagonismus). Es deutet einiges darauf hin, dass Sensibilisierung auch im Tractus perforans stattfindet. Jedenfalls gibt es wenig Grund zur Annahme, dass der Mechanismus beim Menschen nicht vorhanden sein sollte. Man weiß noch wenig über die Gene, die durch die Aktivität von Creb1 abgelesen werden. Es würde ja funktionell wenig Sinn machen, wenn an Hand der Genprodukte alle ca. 1000 Synapsen einer Zelle verstärkt würden. Wir wissen nicht, ob die Genprodukte nur an die beteiligten Synapsen transportiert werden oder an alle, aber nur an den beteiligten wirken. Wahrscheinlich hat Stickstoffmonoxid (NO) steuernde Funktionen, wobei noch unklar ist, wie es die am Lernvorgang beteiligten Synapsen von den unbeteiligten selektiert.
Wir können aber voraussagen, dass jedes Gedächtnis fördernde Medikament eine zweischneidige Wirkung haben dürfte: Es öffnet dem Zufall Tür und Tor, weil Zufallsereignisse genauso wie repetierbare Ursache-Wirkung-Kettenereignisse ins Langzeitgedächtnis übergehen werden. Wir werden ein solches Medikament nur anwenden können, wenn wir während des Lernvorgangs die Zufälle sorgfältig begrenzen/ausschließen.
Jedenfalls ist sicher, dass Lernen, Erinnern und Vergessen in ca. 5 Jahren durch Medikamente beeinflusst werden kann. Die massenhafte Verabreichung an Schüler und Studenten ist eher unwahrscheinlich. Es ist nämlich sinnvoll, dass Erinnerung sich träge verhält und unser Gehirn Neues nur langsam und widerstrebend aufnimmt. Diese naturhafte Trägheit des Erinnerns hat Filterfunktion und verhindert Überflutung. Jedoch wird man altersbedingte Defekte der Merkfähigkeit (Mild Cognitive Impairment MCI) therapieren können. Die zur Zeit (2004) laufenden Menschenversuche sind lt. Nature ermutigend.
Es gibt beim Menschen mit Sicherheit noch weitere Mechanismen, die nicht durch Creb-Proteine moduliert sind. Wir können uns z.B. ca. 3000 Gesichter merken. Ein Synapsen bildendes Training benötigen wir dafür offensichtlich nicht, so viel Zeit investieren wir in der Regel nicht.
KANDEL, Erich: Auf der Suche nach dem Gedächtnis: www.pantheon-verlag.de
www.sciencemag.org/feature/data/nobelprize/
http://cpmcnet.columbia.edu/dept/gsas/biochem/faculty/kandel.html
www.time.com/time/magazine/cover08.html
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